Willkommen auf unserer Homepage

 

 

P F I R B
Plattform Für InterReligiöse Begegnung

 

 

  Artikel / Texte

 


Hans Küng

 

 

Ethische Perspektiven der Weltreligionen

 

a. Das Wohl des Menschen

 

Gewiss, Religionen waren und sind immer in Versuchung, zum Zwecke des Machterhalts ihrer Institutionen, Konstitutionen und Hierarchien nur um sich selber zu kreisen. Und doch vermögen sie, wo sie wollen, mit noch anderer moralischer Kraft als viele internationale Organisationen der Welt glaubwürdig zu machen, dass es ihnen um das "Wohl des Menschen"

geht. Denn alle großen Religionen bieten ja mit Autorität eine "religiöse Grundorientierung" an - Halt, Hilfe und Hoffnung angesichts der Eigenmechanik aller menschlichen Institutionen, angesichts des Eigeninteresses der verschiedenen Individuen und Gruppen und angesichts der Überinformation durch die Medien.

 

b. Maximen elementarer Menschlichkeit

 

Gewiss, Religionen waren und sind immer in Versuchung, sich auf spezielle Traditionen, mysteriöse Dogmen und rituelle Vorschriften zu fixieren und sich abzukapseln. Und doch können sie, wo sie wollen, mit noch anderer Autorität und Überzeugungskraft als Politiker, Juristen und Philosophen grundlegende "Maximen elementarer Menschlichkeit" zur Geltung bringen.

Denn alle großen Religionen fordern ja bestimmte >non-negotiable standards<: ethische Grundnormen und handlungsanleitende Maximen, die von einem Unbedingten, einem Absoluten her begründet werden und deshalb für Hunderte von Millionen Menschen auch unbedingt gelten sollen.

 

c. Vernünftiger Weg der Mitte

 

Gewiß, Religionen waren und sind immer in Versuchung, in der Individual- wie in der Sozialethik, in der Sexual- wie der Wirtschafts- und Staatsethik legalistisch auf irgendwelchen rigoristischen Extrempositionen herumzureiten. Und doch können sie, wo sie wollen, Hunderte von Millionen Menschen auf dieser Erde für einen "vernünftigen Weg der Mitte zwischen Libertinismus und Legalismus" gewinnen. Denn alle großen Religionen fördern ja Handlungsbilder, die einen Weg der Mitte weisen - so wichtig im Blick auf die Komplexität individueller und kollektiver Neigungen, Emotionen und Interessen.

 

d. Goldene Regel

 

Gewiß, Religionen waren und sind immer in Versuchung, sich in einem unendlichen Gestrüpp von Geboten und Vorschriften, Kanons und Paragraphen zu verlieren. Und doch können sie, wo sie wollen, mit ganz anderer Autorität als jede Philosophie begründen, dass die Anwendung ihrer Normen nicht von Fall zu Fall, sondern kategorisch gilt.

Religionen können Menschen eine oberste Gewissensnorm geben, jenen für die heutige Gesellschaft immens wichtigen "kategorischen Imperativ", der in ganz anderer Tiefe und Grundsätzlichkeit verpflichtet. Denn alle großen Religionen fordern ja so etwas wie eine "Goldene Regel" - eine nicht nur hypothetische, bedingte, sondern eine kategorische, apodiktische, "unbedingte Norm" - durchaus praktikabel angesichts der höchst komplexen Situation, in der Einzelne oder auch Gruppen oft handeln müssen.

 

e. Sittliche Motivation

 

Gewiss, Religionen waren und sind immer in der Versuchung, Menschen autoritär zu kommandieren, blinden gehorsam zu fordern und die Gewissen zu vergewaltigen. Und doch können sie, wo sie wollen, überzeugende "sittliche Motivationen" bieten. Denn gegenüber so viel Frustration, Lethargie und Apathie  besonders in der jungen Generation heute können sie aus uralter Tradition in zeitgemäßer Form überzeugende "Motive des Handelns" bieten: nicht nur wie die Philosophie ewige Ideen, abstrakte Prinzipien und allgemeine Normen, sondern auch die lebendige Verkörperung einer neuen Lebenseinstellung und eines neuen Lebensstils.

 

f. Sinnhorizont und Zielbestimmung

 

Gewiss, Religionen waren und sind immer in Versuchung einer doppelten Moral, nämlich die ethischen Forderungen nur anderen zu predigen und nicht selbstkritisch zuerst auf sich selber anzuwenden. Doch können sie , wenn sie wollen, auch heute noch - oder heute wieder neu - mit einzigartiger Überzeugungskraft gegen Leere und Sinnlosigkeit für Hunderte von Millionen Menschen in Lehre, Ethos und Ritus glaubwürdig einen "Sinnhorizont" auf dieser Erde selber aufscheinen lassen - und auch eine letzte "Zielbestimmung".

 

 

Das Humanum als ökumenisches Grundkriterium der Religionen

 

Sollte es nicht möglich sein, dass alle Religionen zumindest bezüglich dieser kriteriologischen Grundfrage übereinstimmen könnten: Gut ist für den Menschen, was ihm hilft, wahrhaft Mensch zu sein! Nach dieser Grundnorm echter Menschlichkeit, der Humanität, lassen sich gut und böse, wahr und falsch unterscheiden. So lässt sich auch unterscheiden, was in der einzelnen Religion grundsätzlich gut und böse, was wahr und was falsch ist.

Wahre Menschlichkeit ist die Voraussetzung wahrer Religion!

Das heißt: Das Humanum (der Respekt vor menschlicher Würde und

Grundwerten) ist eine Mindestforderung an jede Religion: Wenigstens Humanität (das ist ein Minimalkriterium) muss gegeben sein, wo man echte Religiosität realisieren will.

Wahre Religion ist Vollendung wahrer Menschlichkeit!

Das heißt: Religion (als Ausdruck umfassenden Sinnes, höchster Werte, unbedingter Verpflichtung) ist eine Optimalvoraussetzung für die Realisierung des Humanum: Gerade Religion (das ist ein Maximalkriterium) muss gegeben sein, wo man Humanität als wahrhaft unbedingte und universale Verpflichtung realisieren und konkretisieren will.

 


Zurück zur Startseite